EU Drogenbericht 2006

Rauschgift

ist in Europa so billig wie noch nie. Die Preise für Heroin befinden

sich laut EU-Drogenbehörde wegen des Chaos in Afghanistan im freien

Fall. Auch Kokain wird demnach immer beliebter. Die Folge: Erstmals seit

Jahren könnte die Zahl der Drogentoten wieder steigen.

Es ist ein Marktbericht der

anderen Art. Fünf Jahre lang haben die Experten der europäischen

Drogenbeobachtungsstelle EBDD die Entwicklung der Rauschgiftpreise in Europa

beobachtet – und sind zu beunruhigenden Ergebnissen gekommen. Demnach sind

die Durchschnittspreise für die meisten Rauschmittel im EU-Gebiet

zwischen 1999 und 2004 gesunken – zum Teil um fast die Hälfte.

Rauschgift: Preisverfall

in Europa

Dem aktuellen Jahresbericht

zufolge, den die EBDD am heutigen Donnerstag in Brüssel vorgestellt

hat, sind die europäischen Durchschnittspreise für Cannabis um

19 Prozent, für Kokain um 22 und für Amphetamine um 20 Prozent

gefallen. Braunes Heroin sei inflationsbereinigt gar um 45 Prozent billiger

geworden, Ecstasy um 47 Prozent.

Sorgen bereitet den EU-Fachleuten

insbesondere die Entwicklung beim Handel mit Heroin und Kokain. Wer nach

spürbaren Auswirkungen des politischen Chaos in Afghanistan sucht,

muss nicht erst in die Debatte um militärische Kampfeinsätze

einsteigen. Die Folgen sind inzwischen auch auf den Straßen Deutschlands

und anderer europäischer Länder zu besichtigen: Die Menge an

sichergestelltem Heroin befindet sich nach Angaben der EBDD auf einem Rekordhoch.

2004 seien bei rund 46.000 Polizeieinsätzen etwa 19 Tonnen der Droge

entdeckt worden – eine Steigerung von zehn Prozent gegenüber 1999.

Afghanistan hält Welt-Monopol

auf Heroin-Produktion

Das kriegsgebeutelte Land

am Hindukusch ist zum Quasi-Monopolisten der globalen Heroin-Produktion

aufgestiegen. Im vergangenen Jahr wurden nach Recherchen der Uno-Drogenbehörde

UNODC 4100 Tonnen des Rauschgifts in dem Land hergestellt. Das entspreche

89 Prozent der globalen Heroin-Produktion. Inzwischen übersteige das

weltweite Angebot sogar die Nachfrage – was in Europa maßgeblich

zum drastischen Preisverfall von Heroin beigetragen haben dürfte.

“Heroin, das in Europa auftaucht, kommt mittlerweile ausschließlich

aus Afghanistan”, sagte EBDD-Forscher Paul Griffiths.

Was in Afghanistan geschehe,

“wird die Entwicklung der Drogenprobleme beeinflussen, mit denen wir uns

in Europa in Zukunft auseinandersetzen müssen”, sagte EBDD-Direktor

Wolfgang Götz. Zwar komme Heroin “immer mehr aus der Mode”, aber aufgrund

des epidemischen Charakters von Drogenproblemen bestehe die Gefahr, dass

eine neue Generation junger Menschen wieder stärker anfällig

für Heroin werde.

Kokain auf dem Weg zur Massendroge

Ganz andere Sorgen haben

die Experten angesichts der Entwicklung des Kokainkonsums: Lange Zeit als

Schickeriadroge bezeichnet, ist das Rauschgift inzwischen auf dem besten

Weg zur Droge für die Massen. Dem EBDD-Bericht zufolge hat Kokain

Amphetamine und die Partydroge Ecstasy vom zweiten Platz bei den meistkonsumierten

illegalen Drogen Europas verdrängt. Nur Cannabis ist noch weiter verbreitet.

Die EBDD schätzt, dass

rund drei Prozent der Europäer zwischen 15 und 64 Jahren – also rund

zehn Millionen Menschen – in ihrem Leben schon einmal gekokst haben. Noch

alarmierender ist eine andere Zahl: 3,5 Millionen Europäer sollen

allein im Laufe des vergangenen Jahres mindestens einmal Kokain genommen

haben. “Ein historischer Höchststand”, sagte Götz. Im vergangenen

Jahr hatte die EBDD auf den steigenden Kokainkonsum hingewiesen. “Der Alarm

ist nicht beendet”, betonte der EBDD-Direktor.

Beliebt sei Kokain vor allem

in Dänemark, Irland, Italien und den Niederlanden. Die mit Abstand

höchsten Zahlen haben die EU-Drogenexperten allerdings in Spanien

und dem Vereinigten Königreich ausgemacht, wo jeweils rund vier Prozent

der 15- bis 64-Jährigen im vergangenen Jahr gekokst haben. In Deutschland,

Dänemark, Italien und Ungarn registrierte die EBDD einen “mäßigen

Anstieg” des Kokainkonsums.

Ungenaue Umfragewerte – hohe

Dunkelziffer

Allerdings basieren diese

Daten hauptsächlich auf Umfragen, die insbesondere bei Kokain – einer

illegalen Droge, deren Benutzer nur selten in Therapien auftauchen – meist

zu ungenauen Ergebnissen führen. “Die Umfragedaten sind sicherlich

nur als untere Grenze anzusehen”, räumte Griffiths ein. Tatsächlich

deuten Abwasseranalysen, bei denen Forscher in Europa und den USA nach

Kokain-Abbauprodukten gesucht haben, auf einen deutlich höheren Kokainverbrauch

hin, als es Umfragedaten glauben machen. EBDD-Wissenschaftler Griffiths

bezeichnete die Abwasseranalyse als einen “hochinteressanten Ansatz” mit

großem Potential. Bei der Überprüfung der Umfragedaten

und der Beobachtung langfristiger Trends des Kokainkonsums könne die

Abwasseruntersuchung ungeahnte Vorteile bieten.

Dass sich der Kokainkonsum

in Europa bei einem leichten Aufwärtstrend einpendelt, sei jedoch

kein Grund zu der Annahme, dass sich auch die Probleme entsprechend stabilisieren

würden. Denn zwischen dem “ersten Mal” beim Koksen und der Entstehung

regelmäßiger Konsummuster gibt es eine zeitliche Verzögerung.

In Spanien und den Niederlanden ist dieser Zeitbomben-Effekt besonders

gut zu beobachten: Dort hängt laut EBDD bereits jeder vierte Antrag

auf Drogentherapie mit Kokain zusammen. In Ländern wie Deutschland,

Frankreich oder Italien liege dieser Anteil nur bei fünf bis zehn

Prozent.

In Deutschland, Spanien,

Frankreich, den Niederlanden und im Vereinigten Königreich werden

inzwischen 10 bis 20 Prozent der Drogen-Todesfälle auf Kokain zurückgeführt.

Experten gehen jedoch von einer hohen Dunkelziffer aus, da das Rauschgift

Herz-Kreislauf-Probleme verstärken kann. “Zahlreiche kokainbedingte

Todesfälle werden deshalb nicht als solche erfasst”, meint Götz.

Das sei schon daran zu erkennen, dass einige EU-Länder praktisch gar

keine Kokain-Todesopfer meldeten.

Zahl der Drogentoten könnte

wieder steigen

Als einen der negativsten

Aspekte des aktuellen Drogenberichts bezeichnet die EBDD die Entwicklung

bei der Gesamtzahl der Drogentoten. 7000 bis 8000 werden durchschnittlich

pro Jahr in Europa registriert, mit zum Teil stark fallender Tendenz seit

dem Jahr 2000. Doch die Zeiten des kontinuierlichen Abwärtstrends

könnten bald vorbei sein. In den für die Jahre 2003 und 2004

vorliegenden Daten sei die Zahl der Todesfälle um drei Prozent gestiegen,

so die EBDD. Es sei noch zu früh, um zu beurteilen, ob dies einen

“langfristigen Wandel” ankündige. Es sei aber besorgniserregend, dass

13 von 19 EU-Berichtsländern einen Anstieg bei den Drogentoten gemeldet

hätten.

Ein wichtiger Trend in der

europäischen Drogenbekämpfung ist laut Götz, dass die Staaten

zunehmend dazu übergehen, den Missbrauch von legalen und illegalen

Drogen im Zusammenhang zu sehen. Ab 2007 will die EBDD dies in ihren Richtlinien

offiziell festschreiben. Mit der Ausnahmestellung der sozial akzeptierten

Drogen Alkohol und Tabak könnte es dann langsam aber sicher zu Ende

gehen.

“Zu Recht”, wie Götz

findet. Denn während in Europa jedes Jahr 7000 bis 8000 Menschen am

Konsum illegaler Drogen sterben, fordert der Alkoholmissbrauch allein in

Deutschland mehr als 40.000 Tote pro Jahr, wie das Bundesgesundheitsministerium

errechnet hat. Am Tabakkonsum sterben unterschiedlichen Studien zufolge

gar 110.000 bis 140.000 Deutsche pro Jahr.

Spiegel online 23. November

2006

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