Wo
die Drogenbosse regieren
Anfassen
erlaubt, fotografieren verboten: Bei einer geführten Tour durch die
ärmsten Stadtteile von Rio de Janeiro darf man zwar Hände schütteln,
Bilder machen aber auf keinen Fall. Das verbieten die Drogenhändler,
die in den Favelas das Sagen haben.
Ihre
eigene Mutter sträube sich seit fünf Jahren, die Tour mitzumachen,
erzählt die Fremdenführerin Cristina. Und so wirklich wundert
sie das nicht. Die Tour, das ist ein Ausflug in die Slums von Rio de Janeiro,
die sogenannten Favelas. Mehr als 750 solcher Slums gibt es in der Stadt.
Sie wolle aber nur deren positive Seite vermitteln, sagt die Fremdenführerin.
“Die meisten Menschen hier arbeiten, und verdienen mindestens 140 Euro
im Monat. Für ein Leben in den reichen Vierteln genügt das aber
nicht.”
Auch
wenn die Fahrt in die Slums mit einem Mini-Bus gemacht wird – nur wenige
Touristen trauen sich bislang dorthin. Zu sehr fürchten sie die Gewalt
und die alles kontrollierenden Drogenhändler. Die Vorgaben für
die Reise in die Armenviertel sind dementsprechend streng: Auf keinen Fall
solle jemand seinen Fotoapparat zücken und Bilder schießen,
erklärt Cristina. Dies werde schon von den Drogenhändlern verlangt,
welche die Regeln des Zusammenlebens bestimmten und irgendwie sogar die
Sicherheit der Einwohner garantierten. “Die Gefahr rührt vor allem
aus bewaffneten Konflikten zwischen Drogenhändlern und der Polizei,
weil es Opfer verirrter Kugeln gibt”, erklärt die Fremdenführerin.
Strom
wird einfach abgezweigt
Der
Bus stoppt zum ersten Mal in dem kleinen Armenviertel Vila Canoas, das
an das Wohnviertel Sao Conrado im Süden Rios angrenzt. Die kleine
Touristengruppe erkundet das Labyrinth aus engen Gassen zwischen provisorischen
Häusern aus rotem Backstein. Dicht an dicht stehen die kleinen Bauten
unter einem Gewirr aus Stromkabeln. “Noch heute bezahlen 93 Prozent der
Einwohner nicht für Strom. Sie zweigen ihn von öffentlich zugänglichen
Strommasten ab”, erklärt Cristina. Dann führt sie die Urlauber
in eine Schule, die teilweise durch den Tourismus finanziert wird.
Sechs
der 25 Euro, die jeder Besucher für die geführte Tour bezahlt,
gehen an eine Nicht-Regierungs-Organisation, die die Schule unterstützt.
“Wir haben gehört, dass es hier ein Schulprojekt gibt. Meine Frau
ist Lehrerin, da wollen wir sehen, was man in so einer schwierigen Umgebung
tun kann, um den Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen”, sagt ein
französischer Arzt aus dem Elsass. “Für uns ist es eine Ehre,
Touristen zu empfangen”, erklärt Eldomira do Nascimento, die an der
Schule Kunsthandwerk aus der Favela verkauft.
Der
zweite Stopp führt die Touristen nach Rocinha, dem größten
Armenviertel Rios. Dort leben über 100.000 Menschen. Die Bewohner
sehen die Besucher gern. Die Touren seien gut für das Geschäft
und trügen dazu bei, das Image des Viertels zu verbessern, erklärt
Eduardo Barbosa da Silva von der Vereinigung der Bürger Rocinhas.
Die Favelas entstanden nach der Abschaffung der Sklaverei in Brasilien
im Jahr 1888. Der Staat stellte den früheren Leibeigenen Land auf
den Hügeln Rios zur Verfügung. In den fünfziger und sechziger
Jahren flohen zusätzlich zahlreiche Brasilianer aus dem Nordosten
vor der Dürre in die Metropolen Rio und São Paulo, um sich
dort auf Baustellen zu verdingen. “Deshalb wissen die Menschen hier heute
noch, wie man Häuser baut”, sagt die Fremdenführerin.
Mit
ihren geführten Touren will Cristina die Favelas ein Stück näher
an den Rest der Stadt rücken. Voyeurismus auf das Leben der Armen
sei das aber nicht, findet sie. Tourteilnehmerin Melanie Sadel sieht da
auch kein Problem: “Wir sind der Bevölkerung begegnet, aber nicht
in ihre Privatsphäre eingedrungen”, sagt sie.