RootZ.Öko – Artikel aus der Umwelt

 
Spiegel

online 28.02.07

ANTARKTIS-EISANALYSE

Kühlhaus der Weltmeere

droht auszufallen

Von Stefan Schmitt

Ein überraschender Fund

in der Antarktis alarmiert Wissenschaftler: Das südliche Schelfeis

reagiert einer Eisbohrkern-Analyse zufolge viel empfindlicher auf Erwärmungen

als gedacht. Folge: Der Meeresspiegel könnte durch den Klimawandel

weit stärker steigen als bisher vermutet.

Genau 1287 Meter und 87 Zentimeter

tief grub sich der Hightech-Bohrer von Oktober bis Ende Dezember 2006 in

den Meeresboden unter dem Ross-Eisschelf in der Ostantarktis. Die Ablagerungen,

die mit dem Bohrkern ans Tageslicht gefördert wurden, ermöglichen

eine Zeitreise. Mit jedem Meter Sediment können Wissenschaftler rund

10.000 Jahre in die Vergangenheit blicken. Die jüngste Bohrung reicht

also grob rund zwölf Millionen Jahre zurück.

Die Probe könnte sich

als einer der wichtigsten Bohrkerne der vergangenen Jahre herausstellen.

Denn die Ablagerungen darin zeigen: Erst während der letzten Million

Jahre war das Klima des Südkontinents kontinuierlich kalt, eine der

größten Buchten der Antarktis ständig von einem bis zu

mehrere hundert Meter dicken Eisschild bedeckt. Vor rund fünf Millionen

Jahren schmolz das Schelfeis ab – und wohl auch ein beträchtlicher

Teil des Festland-Eises. Wo die Forscher heute durch 80 Meter Schelfeis

bohren müssen, bevor sie in 800 Metern Wassertiefe auf den Meeresgrund

treffen, war damals offene See. In den folgenden rund 3,5 Millionen Jahren

schwankte das Klima ständig.

So interpretiert der Geowissenschaftler

Lothar Viereck-Götte die ersten vorläufigen Daten über den

neuen Bohrkern auf der Website von Andrill (Antarctic Geological Drilling).

Das Gemeinschaftsprojekt Deutschlands, Italiens, Neuseelands und der USA

soll durch neue Bohrungen die Prähistorie der antarktischen Umweltbedingungen

rekonstruieren. Das ist schwerer als es klingt, da an vielen küstennahen

Stellen der Meeresboden im Lauf der Jahrtausende von Gletschern und Eisbergen

umgepflügt wurde. Schlimmer noch: Weiter unten im Bohrkern treffen

die Wissenschaftler häufig nur das Geröll von Endmoränen

an. Doch Ende 2006 stießen das Andrill-Team 15 Kilometer außerhalb

der McMurdo-Station in Richtung des Vulkans Mount Erebus auf eine Stelle

mit ungestörten Ablagerungen.

Erstmals Einblicke in die

Verhältnisse vor 5 Millionen Jahren

“Diesmal konnten wir die

Schichten zwischen fünf und zwölf Millionen Jahre erbohren”,

sagte Andrill-Mitglied Viereck-Götte zu SPIEGEL ONLINE. Besonders

der Einblick in die Vereisungsgeschichte der jüngsten fünf Millionen

Jahre sei überraschend und neu. Bislang fehlten vergleichbare Daten.

Viereck-Götte spricht von einem “erschreckenden Ergebnis”: “Die Eiskappen

sind wesentlich mobiler und sensibler, als wir es vermutet hatten.”

“Dass das Meer hier fast

eine Million Jahre eisfrei war, ist völlig neu”, sagte Viereck-Götte.

Zudem steht das Abschmelzen vor rund fünf Millionen Jahren im Kontext

eines prähistorischen Klimawandels: Während der sogenannten Miozän-Pliozän-Erwärmung

müsse in der Antarktis ein “massives Abschmelzen” stattgefunden haben.

Die Ursache klingt indes alles andere als massiv: Aus Isotopenuntersuchungen

von unterschiedlichen Orten weltweit wissen Paläoklimatologen, dass

sich damals die weltweite Durchschnittstemperatur im Meer um zwei bis drei

Grad Celsius erhöhte – eine scheinbar kleine Veränderung. Dennoch

führte sie dem neuen Andrill-Bohrkern zufolge zur eisfreien Ross-See.

Kleine Mikroorganismen, sogenannte

Diatomeen, verraten das den Forschern. In eisbedecktem Wasser können

sie nicht leben. Doch im Bohrkern fand man sie über eben jenen Zeitraum

von einer Million Jahre ununterbrochen vor. “Dass dieses System so sensibel

wäre, hätten wir nicht gedacht”, sagte Viereck-Götte. Eisfreie

Ross-Bucht – das hat nicht bloß Konsequenzen für den Meeresspiegel.

“Die antarktischen Schelfeise

haben große Bedeutung für das globale Umweltsystem”, sagte Frank

Niessen vom Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut (Awi) für Polar-

und Meeresforschung. Unter den gewaltigen schwimmenden Eisflächen

– alleine das Ross-Eisschelf ist so groß wie Frankreich – kühle

Meerwasser stark ab und stürze wegen seiner hohen Dichte regelrecht

in die Tiefsee. Die Schelfeis-Buchten des Südkontinents speisen so

einen immerwährenden Kreislauf von Kalt- und Warmwasser. “Das ist

ein wichtiger Motor des globalen Strömungssystem”, sagte Niessen.

Ergebnisse vorläufig,

Befund eindeutig

Noch befinden sich die Bohrkerne

auf der Schiffspassage nach Florida. Dort treffen im Mai Andrill-Forscher

aus aller Welt ein, um die Verteilung auszuhandeln: Eine Hälfte der

Bohrkerne wird im Kühlhaus archiviert, die andere zerschnitten und

in alle Welt verteilt. Dann werden die einzelnen Ergebnisse in Fachzeitschriften

veröffentlicht. “Das lässt zumindest eine kleine Sensation erwarten”,

sagte Polarforscher Niessen.

Seine Kollegen aus Jena und

Göttingen hoffen darauf, so viele Stückchen wie möglich

mitnehmen zu können. “Wir wollen untersuchen, aus welchen Partikeln

das Sediment besteht”, sagte Lothar Viereck-Götte zu SPIEGEL ONLINE.

So könne er genau bestimmen, welchen Anteil das Eis vom östlichen

und vom westlichen antarktischen Eisschild am Abfluss in die Ross-See gehabt

habe.

Schmelzendes Eis vom Inlands-Eispanzer

des Südkontinents wirkt sich auch – anders als das schwimmende Schelfeis

– direkt auf die weltweiten Meereshöhen aus. “Das Schelfeis stützt

die Inlandseismassen”, sagte Niessen. Fehle es, erhöhe sich die Bewegungs-

und Schmelzgeschwindigkeit der Inlandgletscher.

“Die Botschaft des Bohrkerns”

Der Awi-Forscher hält

die ersten, vorläufigen Befunde aus dem neuen Bohrkern für “deutliche

Hinweise”. Dass es vor fünf Millionen Jahren eine eisfreie Ross-Bucht

gab, sei “definitiv sicher”. Und was wie ein Detail klingt, ist zentral

für eine bange Zukunftsfrage: Welche Reaktion auf die globale Erwärmung

muss die Menschheit vom eisigen Südkontinent erwarten? Und wie schnell?

Bislang befürchten Klimaforscher

hauptsächlich, dass der kleine westantarktische Eisschild in Folge

der bis zum Ende des 21. Jahrhunderts vorhergesagten Erwärmung schrumpfen

könne. Die jüngst vom Weltklimarat der Uno zusammengefassten

Modellrechnungen sagen eine Erwärmung um zwei bis fünf Grad Celsius

bis zum Jahr 2100 voraus. Dass davon auch der deutlich größere

ostantarktische Eisschild stark in Mitleidenschaft gezogen werden könnte,

gehört nicht zu den Modellen der Klimasimulationen – bislang jedenfalls.

In der Miozän-Pliozän-Warmzeit

wurden die Ozeane durchschnittlich nur zwei bis drei Grad Celsius wärmer.

Doch auch relativ kleine Erwärmungen können größere

Folgen zeitigen als bisher vermutet. “Was wir gelernt haben ist, dass das

Schelfeis ein hochdynamisches System ist. Das hätten wir nicht gedacht”,

sagte Niessen. Dies müsse man in künftige Klimamodelle einbauen.

“Das ist die Botschaft dieses Bohrkerns.” Der Mensch, so scheint es, unterschätzt

bislang auch die Auswirkungen kleiner Erwärmungen noch.

 

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