RootZ.Öko – Artikel aus der Umwelt

 
Spiegel

online 17.05.07

ATLANTIK

Sprunghafte Wärmepumpe

überrascht Forscher

Ohne den Golfstrom wäre

es in Europa mehrere Grad kälter. Den Ausfall der atlantischen Wärmepumpe

haben Forscher schon mehrfach beschworen. Doch eine erste ganzjährige

Messung zeigt nun: Drastische Schwankungen müssen nicht vom Klimawandel

kommen, sie sind offenbar ganz normal.

Nicht jedes Forschungsergebnis

schafft mehr Klarheit. Viele – und das bringt die Wissenschaft paradoxerweise

gewaltig voran – verwirren zunächst vielmehr. Am frustrierendsten

sind jene Daten, die in erster Linie zeigen: Bisher haben wir es uns zu

einfach gemacht. Das war offenbar auch beim Nordatlantikstrom der Fall.

Dieser gewaltigen Umwälzmaschine

haben Wissenschaftler nun erstmals ein ganzes Jahr lang den Puls gefühlt,

mit Messbojen, die südlich der Kanarischen Inseln und östlich

der Bahamas verankert waren. Die Daten zu Druck, Temperatur und Salzgehalt,

welche diese in den zwölf Monaten von Anfang 2004 bis Anfang 2005

aufgezeichnet haben, zeigen ein – gelinde gesagt – ziemlich unstetes Bild:

Die Messwerte schwankten sehr stark.

So durchflossen im Jahresmittel

18,7 Millionen Kubikmeter Wasser den Ost-West-Querschnitt – pro Sekunde.

Allerdings schwankte diese Menge stark, zwischen vier und fast 35 Sverdrup

(Millionen Kubikmeter pro Sekunde), berichten britische, deutsche und US-Forscher

um Stuart Cunningham vom National Oceanography Center (NOC) in Southampton

in der Wissenschaftszeitschrift “Science”. Soviel Variabilität – das

überrascht die Experten.

“Keinerlei Anzeichen einer

Abschwächung”

Denn bislang waren Forscher

auf punktuelle Messungen der atlantischen Umwälzbewegungen (auch MOC

genannt) angewiesen. So hatten im November 2005 Autoren um NOC-Forscher

Harry Bryden in der Wissenschaftszeitschrift “Nature” gemeldet: Der Golfstrom

hat sich abgeschwächt (mehr…). In 50 Jahren habe die atlantische

Wärmepumpe fast ein Drittel ihrer Kraft eingebüßt. Allerdings

beruhte diese Nachricht auf wenigen, zeitlich begrenzten Messwerten. Im

Licht der neuen dokumentierten Schwankungen ist solchen punktuellen Daten

künftig nicht mehr zu trauen.

Alles, was man selbst über

einen Zehnjahreszeitraum hinweg an Veränderungen beobachtet zu haben

glaubte, müsse künftig wohl der normalen Schwankung im Jahresverlauf

zugerechnet werden, sagte Bryden der BBC. Er war auch an der neuen Untersuchung

beteiligt, ebenso wie Jochem Marotzke vom Hamburger Max-Planck-Institut

für Meteorologie. Er sieht “keinerlei Anzeichen einer Abschwächung

der MOC”.

Atlantic Meridional Overturning

Circulation (AMOC) wird die Klimapumpe im Atlantischen Ozean genannt, zuweilen

auch atlantische meridionale Umwälzbewegung. Der wohl bekannteste

Teil dieses komplexen Systems ist der Golfstrom, der an der Ostküste

Nordamerikas hinauf warmes Wasser Richtung Europa transportiert – und damit

für vier bis sechs Grad Celsius höhere Durchschnittstemperaturen

sorgt.

Die AMOC ist Teil eines globalen

Systems, das Wärme und Süßwasser in den Ozeanen umverteilt.

Angetrieben werden diese erdumspannenden Endlosschleifen von Dichteunterschieden,

die durch unterschiedliche Salzgehalte und Wassertemperaturen entstehen.

Im Nordatlantik tragen warme, oberflächennahen Strömungen Wasser

nordwärts. Im hohen Norden sinken diese Massen in die Tiefsee, von

wo sie aus als kalte, dichte Bodenströmungen zurück nach Süden

transportiert werden. Forscher sprechen auch von einem Fließband

im Atlantik.

Gigantische Wassermengen

werden jede Sekunde in den Weltmeeren verschoben. Um diese Größen

in handhabbaren Zahlen festhalten zu können, haben Ozeanforscher sich

eine geradezu gigantische Einheit ausgedacht, Sverdrup. Damit bezeichnen

sie einen Durchfluss von zehn Millionen Kubikmetern pro Sekunde.

Ein plötzlicher Abbruch

der Umwälzmaschine im Meer zählt zu den Horrorszenarien der Klimaforschung:

Popularisiert wurde er in Roland Emmerichs Science-Fiction-Film “The Day

After Tomorrow” und auch der ehemalige US-Vizepräsident Al Gore erwähnte

es in seinem Oscar-gekrönten Dokumentarfilm “Eine unangenehme Wahrheit”.

Aus der Klimageschichte weiß man, der Golfstrom kann abrupt kippen

(mehr…). Dies war etwa vor 55 Millionen Jahren der Fall.

Furcht vor dem Kollaps durch

Schmelzwasser

In der nahen Zukunft steht

ein solcher Kollaps aber trotz globaler Erwärmung nicht bevor. Vielmehr

könnten Forscher bei Messungen, die zu solchen Vorhersagen führten,

der offenbar drastisch sprunghaften MOC aufgesessen sein. “Die großen

Schwankungen sind auch die Ursache dafür, dass früher diagnostiziert

wurde, eine Abschwächung habe bereits stattgefunden”, sagte Marotzke,

“man hat zufälligerweise zu einem Zeitpunkt gemessen, als die Zirkulation

gerade recht schwach war.”

Das klingt nach einer guten

Nachricht, doch hat die Befürchtung vor einem Golfstrom-Kollaps als

Folge des Klimawandels durchaus einen berechtigten Hintergrund: Schmilzt

in der Arktis mehr Süßwasser, das ins Meer fließt, so

könnte sich im Hohen Norden das Mischverhältnis ändern –

und die Endlosschleife womöglich ins Stocken geraten, weil nicht genug

schweres, kaltes, salzhaltiges Wasser bei Island in die Tiefsee stürzt.

Das neue System – es misst

zunächst bis zum Jahr 2014 weiter – taugt offenbar auch als Sensor

für eine solche Veränderung. “Jede plötzliche Veränderung

können wir sehr schnell feststellen”, sagte Bryden.

Noch im Juli hatten Forscher

des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) mit einer Warnung

vor dem unwiderrufbaren Abbruch des Nordatlantikstroms für Aufsehen

gesorgt. Ihr Beitrag im Fachmagazin “Climatic Change” entpuppte sich allerdings

nicht als Ergebnis einer Messung – sondern als Auswertung einer Expertenbefragung

(mehr…). Deren Interpretation indes ist nicht unstrittig. Gegenwärtig

glaubt das Gros der Klimaforscher, dass der Nordatlantikstrom insgesamt

recht robust auf die globale Erwärmung reagiert (mehr…) – er ist

dabei offenbar nur viel sprunghafter, als man bisher dachte.

 

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